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Die Gründe für temperaturbedingte Übersterblichkeit

On the rise: Warum so viele Menschen an extremen Temperaturen sterben

Wenn man an jemanden denkt, der aufgrund extremer Temperaturen stirbt, stellt man sich wahrscheinlich jemanden vor, der an einem Hitzschlag zusammenbricht oder an Unterkühlung stirbt. Doch die meisten Menschen sterben nicht direkt durch „Hitze“ oder „Kälte“. Stattdessen sind es aber meist Herz-Kreislauf- oder Nierenerkrankungen, Atemwegsinfektionen oder Diabetes, die durch extreme Temperaturen verschlimmert werden und zum Tod führen.

Fast niemand hat „Hitze“ oder „Kälte“ auf seiner Sterbeurkunde stehen. suboptimale Temperaturen führen aber zu einer großen Zahl vorzeitiger Todesfälle. Besonders ältere Menschen sind anfällig für extreme Temperaturen - die meisten Todesfälle betreffen Menschen über 65 Jahre. Dabei ist es wichtig zu verstehen, was „Tod“ in diesem Zusammenhang bedeutet und wie temperaturebedingte Todesfälle im Vergleich zu anderen Ursachen stehen. Zu warm oder zu kalt zu sein erhöht das Risiko, bestimmte Gesundheitsprobleme zu entwickeln oder bestehende zu verschlimmern, was letztlich zu einem früheren Tod führen kann, als es bei „optimalen“ Temperaturen der Fall wäre.

Wie viel Lebenszeit rauben heiße oder kalte Bedingungen? Das lässt sich schwer genau beziffern. Eine gängige Methode, die Forscher verwenden, ist die Analyse von Übersterblichkeitsraten – also wie viel mehr Menschen in einem besonders warmen oder kalten Jahr im Vergleich zu einem „Durchschnittsjahr“ sterben. Diese Übersterblichkeit gibt Hinweise darauf, ob temperaturebedingte Todesfälle das Leben signifikant verkürzen oder nicht.

Eine Studie untersuchte die Sterblichkeitsmuster im Vereinigten Königreich über 50 Jahre und stellte fest, dass die meisten kältebedingten Todesfälle bei Menschen auftraten, die in den nächsten sechs Monaten nicht gestorben wären. Eine spätere Studie, die die Auswirkungen von hohen und niedrigen Temperaturen in einer größeren Stichprobe von Ländern untersuchte, zeigte, dass die meisten temperaturebedingten Todesfälle die Lebensdauer um mindestens ein Jahr verkürzten, obwohl es auch einige gab, die weniger Lebenszeit verloren.

Der "Sweet Spot”: Wo Temperaturen am angenehmsten und gesündesten sind

Um temperaturebedingte Todesfälle zu schätzen, ermitteln Forscher die sogenannte Temperatur-Mortalitäts-Beziehung. Diese zeigt, wie unser Sterberisiko bei verschiedenen Temperaturen variiert. Anhand realer Sterbedaten ermitteln Wissenschaftler die „Übersterblichkeit“ – also wie viele „zusätzliche“ Todesfälle bei bestimmten Temperaturen über eine erwartete Basis hinaus auftreten. Wenn man dieses erhöhte Risiko gegen die Temperatur aufträgt, ergibt sich eine U-förmige Kurve.

Das Risiko ist am geringsten bei der „optimalen Temperatur“ oder „Minimum-Mortalitäts-Temperatur“ (Minimum Mortality Threshold - MMT). Dies ist der “Sweet Spot“ - der Punkt an dem die Temperatur optimal ist: nicht zu heiß, nicht zu kalt, genau richtig.

Auf beiden Seiten dieses Optimums steigt das Gesundheitsrisiko. Die Form dieser Kurve ist entscheidend. In den meisten Regionen steigt das Risiko bei „mäßig kalten“ Temperaturen relativ langsam an, bevor es bei extrem kalten Bedingungen stark ansteigt. Bei sehr warmen Temperaturen steigt das Risiko hingegen steil an.

 

Die Beziehung zwischen lokalen Temperaturen und dem Risiko eines vorzeitigen Todes

Interessanterweise ist die MMT nicht überall gleich, sondern variiert von Stadt zu Stadt auf der ganzen Welt. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die folgenden, beispielhaften Kurven, dass die Beziehung zwischen Temperatur und relativem Sterberisiko je nach Ort unterschiedlich ist, weil sich Menschen an bestimmte Klimazonen gewöhnen und durch natürliche Hitzeanpassung - bei der sich unser Körper physiologisch an heißere oder kältere Temperaturen anpasst - oder durch technologische Anpassungen wie Heizung oder Klimaanlagen reagieren. Menschen in Vancouver sind beispielsweise gut an sehr kalte Temperaturen gewöhnt, aber nicht an warme Tage angepasst.

Entsprechend sind die Sterblichkeitsraten bei sehr hohen Temperaturen in Kapstadt gering, weil die meisten Menschen Klimaanlagen haben. In Paris oder London ist das nicht der Fall; in vielen europäischen Ländern sind Klimaanlagen immer noch selten.

Ein Beispiel, das dies eindrucksvoll aufzeigt, ist die große Hitzewelle, die im Jahr 2003 Europa traf. Frankreich war hier besonders betroffen - rund 15.000 Menschen starben. Die erreichten Temperaturen - in einigen Städten eine Woche lang bis zu 40°C - waren in den frühen 2000er Jahren für die Region ungewöhnlich. In anderen Teilen der Welt wären sie jedoch kaum aufgefallen und hätten nicht besonders viele Todesopfer gefordert. Das Problem war, dass die lokalen Bevölkerungen, die mildere Sommer gewohnt waren, nicht wussten, wie sie auf extreme Hitze reagieren sollten. Selbst einfache Anpassungsmaßnahmen wie Rehydrierung hätten einigen Menschen das Leben retten können.

 

Die meisten Menschen sterben bei „mäßig kalten“ Bedingungen

Wenn man sich viele der „optimalen Temperatur“-Kurven ansieht, stellt man fest, dass Menschen beispielsweisen in Deutschland einen großen Teil des Jahres bei Temperaturen verbringen, die kälter sind als „optimal“. Das bedeutet, dass die meisten temperaturebedingten Todesfälle bei „mäßig kalten“ Bedingungen auftreten, nicht an extrem kalten oder heißen Tagen. Das liegt nicht daran, dass das Sterberisiko in diesem Bereich am höchsten ist, sondern daran, dass wir dort am meisten Zeit verbringen.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Studien, die untersuchen, wie viele Menschen durch suboptimale Temperaturen sterben. Eine große globale Studie von Prof. Qi Zhao und Kollegen schätzte, dass von 2000 bis 2019 jährlich 5 Millionen Menschen vorzeitig durch Kälte- oder Hitzetod starben. Das entsprach 9,4 % der Todesfälle aller Ursachen. Fast jeder zehnte Todesfall.

Eine frühere Studie von Dr. Antonio Gasparrini und Kollegen schätzte, dass 7,7 % der Todesfälle in ausgewählten Ländern auf Temperaturen zurückzuführen waren. Dies lässt sich nicht direkt mit den 9,4 % vergleichen und auch nicht zur Schätzung einer globalen Zahl verwenden, da nicht alle Länder einbezogen wurden. Aber es zeigt, dass ein erheblicher Anteil der Todesfälle in Australien, Brasilien, Kanada, China, Italien, Japan, Südkorea, Spanien, Schweden, Taiwan, Thailand, dem Vereinigten Königreich und den USA mit suboptimalen Temperaturen zusammenhängt.

Einige Forscher gehen davon aus, dass jährlich bis zu 1,8 Millionen Todesfälle allein auf kurzfristige Temperaturschwankungen zurückzuführen sind. Große Schwankungen von kalt zu warm oder umgekehrt können unser Organsystem belasten und Gesundheitsrisiken erhöhen. Obwohl die Schätzungen je nach methodischen Unterschieden, Datenqualität und Annahmen darüber, wie Menschen auf Temperaturveränderungen reagieren, variieren, sind die Zahlen nicht klein – sie reichen von 1,7 bis 5 Millionen.

Kältebedingte Todesfälle übertreffen Hitzetode in allen Ländern

Was in diesen Studien konsistent ist, ist, dass kältebedingte Todesfälle die hitzebedingten bei weitem übertreffen. Die Studie, die schätzt, dass 7,7 % der Todesfälle auf Temperaturen zurückzuführen sind, fand heraus, dass 7,3 % auf kalte Temperaturen zurückzuführen sind; 0,4 % auf Hitze. In der „5-Millionen-Todesfälle“-Studie waren 9,4 % der Todesfälle auf suboptimale Temperaturen zurückzuführen. 8,5 % waren kältebedingt und 0,9 % hitzebedingt. Dieses Ungleichgewicht war in allen Regionen zu beobachten.

Weltweit sind Kältetote neunmal häufiger als hitzebedingte Todesfälle. In keiner Region ist dieses Verhältnis geringer als 3, und in vielen liegt es bei über 10. Kälte ist tödlicher als Hitze, selbst in den heißesten Teilen der Welt. Um es noch einmal klarzustellen: Die meisten dieser Todesfälle treten bei „mäßig kalten“ Bedingungen auf, nicht bei extremen Temperaturen. Aber es ist ein robustes und konsistentes Ergebnis in der wissenschaftlichen Literatur: Heute sterben mehr Menschen an Kälte als an Hitze. Dies könnte sich in Zukunft aufgrund des Klimawandels ändern.